Private Nebenbahnen

Landeseisenbahn

Als sich im Laufe der 1870er Jahre herauskristallisierte, dass die Braunschweigische Eisenbahngesellschaft nicht die von der Wirtschaft des Herzogtums erwünschten Bahnstrecken bauen würde, wurde in der Ständeversammlung vorgeschlagen, dass die Regierung den Bau von privat betriebenen Nebenbahnen vorantreiben möge. Unter Neben- oder Sekundärbahnen sind solche zu verstehen, die hauptsächlich dem örtlichen Verkehr dienen und deutlich kostengünstigeren Bau und Betrieb auszeichnen. Das wurde u. a. erreicht durch eine geringere Geschwindigkeit, so dass bei Bahnübergängen und Signaleinrichtungen gespart werden konnte.

Unternommen wurde indes zunächst nichts. Schließlich wurden 1882 zwei Frankfurter Bankhäuser bei der Landesregierung mit der Idee vorstellig, eine Bahngesellschaft für Sekundärbahnen im Braunschweigischen zu gründen. Der Plan scheiterte zunächst an dem vertraglich festgelegten Vorkonzessionsrecht der Braunschweigischen Eisenbahngesellschaft und der notwendigen Zustimmung Preußens, da ein Teil der zu schaffenden Strecken auf dessen Territorium liegen würde. Das Verhalten Preußens kann man nur als Erpressung bezeichnen, um die Zustimmung Braunschweigs zur Auflösung der rechtlich immer noch eigenständigen – wenn auch nicht unabhängigen – Braunschweigischen Eisenbahngesellschaft zu erlangen.

Wie im vorherigen Teil geschildert, kam es schließlich zu einer Einigung zwischen Braunschweig und Preußen, infolge derer die Braunschweigische Eisenbahngesellschaft in der Preußischen Staatsbahn aufging. Dadurch wurde aber auch der Weg frei für andere Privatbahnen auf braunschweigischem Gebiet. Schon 1883 – also noch vor dem Staatsvertrag – wurde zwischen dem Herzogtum und den Banken ein Vertrag abgeschlossen, mit dem vier zu bauende Strecken vereinbart wurden:

  • Braunschweig – Derneburg – Seesen
  • Die Ringbahn im Westen der Stadt Braunschweig
  • Braunschweig – Gifhorn
  • Helmstedt – Oebisfelde

Praktisch gleichzeitig mit dem Staatsvertrag wurde die Braunschweigische Landes-Eisenbahn-Gesellschaft (BLE) gegründet. Von den genannten Strecken wurden am Ende die beiden letzteren von der Preußischen Staatsbahn übernommen (ich werde im nächsten Teil darauf zurückkommen). Die Ringbahn war effektiv Teil der Strecke nach Seesen, da diese im Norden Braunschweigs begann.

Das Herzogtum Braunschweig förderte den Bau mit erheblichen Subventionen.

Braunschweig – Derneburg – Seesen

Gelände des ehemaligen Rangierbahnhofs Baunschweig-West
Gelände des ehemaligen Rangierbahnhofs Baunschweig-West (2021)

Eine der gewünschten Trassen sollte den ländlichen Raum südwestlich von Braunschweig erschließen. Als Sekundärbahn kam es nicht darauf an, überregionale Verbindungen zu schaffen, sondern – neben dem Personenverkehr – verschiedenen Betrieben zu einem Eisenbahnanschluss zu verhelfen, darunter Zuckerfabriken, Kalibergwerken, einer Ziegelei. Dafür reichte eine eingleisige Trasse, die dann auch relativ kurvig angelegt wurde. Innerhalb Braunschweigs begann die Strecke am Nordbahnhof, dessen Gebäude immer noch steht, und wo auch die Verwaltung der Eisenbahngesellschaft eingerichtet wurde. In einem Bogen führte die Strecke zum Westbahnhof, dessen Gebäude es zwar nicht mehr gibt, der aber als Rangierbahnhof nachvollziehbar bleibt, weil teilweise Gleise liegengeblieben sind, teilweise zu einem Rad- und Fußweg umgewandelt wurden. Der Westbahnhof – anfangs noch Wilhelmitorbahnhof – wurde zum wichtigen Rangierbahnhof der Strecke. Über eine Verbindungskurve – heute als Viertelkreis an der Arndtstraße erkennbar – wurden Waggons auf ein Übergabegleis am Hauptbahnhof an die Staatsbahn weitergegeben, wodurch sie überregional zustellbar wurden.

Anders als der heute als Ringgleis bekannte Radweg führte die Trasse am Klosterkamp nicht weiter ringförmig um die Innenstadt herum, sondern verließ die Stadt Richtung Süden/Südwesten. Dabei wurde die Staatsbahn mittels einer Brücke überquert. Tatsächlich war die Strecke der BLE im Bereich von Braunschweig nur über das Verbindungsgleis zum Hauptbahnhof mit der Staatsbahn verbunden.

Verlauf der Bahnstrecke Braunschweig - Derneburg in Thiede heute
Weg in Thiede (Nähe Adalbert-Stifter-Straße) auf dem Verlauf der ehemaligen Bahnstrecke (2023)

Nach einem Teilstück Richtung Süden machte die Trasse einen Knick Richtung Westen, so dass die Region nördlich des Salzgitter-Höhenzugs abgedeckt wurde. Zielort war Derneburg, wo es Anschluss an die Strecke der (inzwischen) Preußischen Staatsbahn zwischen Hildesheim und Goslar gab, die 1875 den Betrieb aufgenommen hatte und das Innerste-Tal nach Langelsheim erschloss.

Wo noch eine Bahn fehlte, war das Nettetal von Derneburg Richtung Süden. Die Stadt Bockenem war mit knapp 1000 Einwohnern der größte Ort dieser als Ambergau bezeichneten Region.

Die Lücke in der Erschließung durch Eisenbahnen füllte nun die BLE mit einem weiteren Abschnitt, der in Seesen endete. In Seesen wurde ein Bahnhof in gewisser Entfernung von dem bestehenden Bahnhof der Braunschweigischen Südbahn (die ebenfalls inzwischen Teil der Preußischen Staatsbahn war) gebaut.

Nicht optimal war die die Verknüpfung der Teilstrecken westlich und südlich von Derneburg: aus topographischen Gründen musste ein durchgehender Zug in Derneburg „Kopf machen“, d. h. seine Fahrtrichtung ändern. Was an der Trassenführung auffällt, ist, wie Bahnhöfe wegen landschaftlicher Gegebenheiten oftmals weit entfernt von den Ortschaften angelegt wurden.

In der Bedeutung überwogen insgesamt die Güterkunden. Auf dem Abschnitt bis Derneburg gab es: in Thiede sowohl eine Ziegelei als auch ein Kaliwerk. In Salder einen Kalksteinbruch. In Osterlinde eine Kreidemühle. Zuckerfabriken gab es in Thiede, Immenrode, Barum, Osterlinde-Burgdorf. Ein beliebtes Ausflugsziel war Lindenberg mit einer mittelalterlichen Burgruine.

Auf dem Abschnitt südlich von Derneburg gab es: eine Zucker- und eine Konservenfabrik. Weiterhin Ziegeleien in Sottrum (Nähe Bahnhof Wohldenberg) und Nienhagen sowie ein Zementfabrik in Schlewecke. In Bornhausen wurden Braunkohle und Quarzsand abgebaut. Bornum konnte eine Gießerei vorweisen (später in Wilhelmshütte umbenannt). Zu einem der größten Kunden auf diesem Abschnitt entwickelte sich die Gewerkschaft Carlsfund, ein Kalibergwerk in Groß-Rhüden, das erst nach Inbetriebnahme der Strecke gegründet wurde.

Im Juli 1886 wurde die Strecke zwischen Braunschweig Nord und Derneburg nach rund 16 Monaten Bauzeit für den Personenverkehr eröffnet. Der Güterverkehr folgte abschnittsweise in den folgenden Monaten. Im weiteren Verlauf wurden ebenso immer wieder fertiggestellte Abschnitte eröffnet. Über Bockenem (Mai 1887) erreichte man im Mai 1889 Seesen.

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Schuntertalbahn

Mit dieser Strecke greife ich ein wenig vor, weil noch vor dieser Strecke mehrere andere Strecken durch die Staatsbahn gebaut wurden, auf die ich auf einer separaten Seite eingehe. Sie passt aber besser hier in den Kontext, weil sie einerseits ein Projekt des Braunschweigischen Landeseisenbahn war und andererseits direkt an die vorstehende Strecke anschließt.

Die Wurzel dieser Strecke liegt in einem Kalibergwerk in Ehmen, dessen Bau im April 1899 begonnen wurde. In der Nähe wurde bald eine Ziegelei errichtet. Beides existiert zwar heute nicht mehr, man kann es aber noch lokalisieren: das Bergwerk anhand des Wasserturms gegenüber dem Friedhof, die Ziegelei anhand der Teiche, die sich aus den einstigen Tongruben gebildet haben. Da sich die Betriebe in der Nähe der Bahnstrecke Berlin – Lehrte befanden, bot es sich an, sie an diese Strecke anzuschließen, und zwar am nächsten Punkt, in Fallersleben. Fallersleben hatte zu dieser Zeit rund 2000 Einwohner.

Ehemaliges Bahnhofgebäude Gliesmarode
Ehemaliges Bahnhofgebäude Gliesmarode (2021)

Zu dieser Zeit entdeckte die Braunschweigische Landeseisenbahn ihr Interesse an einer Verbindung nach Fallersleben. Diese war schon bei der Gründung erwogen worden, fand sich dann aber nicht mehr in den finalen Verträgen. Der erste Abschnitt bis Gliesmarode wurde bereits 1901 in Betrieb genommen. Dazu war es nötig, die Bahnstrecke der Preußischen Staatsbahn nach Wieren mit einer Brücke zu überqueren. Eine Verbindung zwischen beiden wurde nicht gebaut. Es gab also auch nie eine Ringbahn im eigentlichen Sinn, denn auch eine Umsteigemöglichkeit gab es nicht. Der Bahnhof der BLE in Gliesmarode an der Querumer Straße wurde zunächst Gliesmarode BLE genannt.

Bis 1902 war die Strecke bis zur Landesgrenze bei Brunsrode-Flechtorf fertig. Danach gab es noch wegen des Konzessionsverfahrens für den preußischen Teil eine Verzögerung, und die komplette Strecke bis Fallersleben konnte im November 1904 eröffnet werden. Inzwischen hatte die BLE der Gewerkschaft Einigkeit, die das Kalibergwerk betrieb, dessen vorhandene Bahnstrecke abgekauft. Damit hatte sie sich gleichzeitig einen wichtigen Kunden gesichert. Andere Großkunden zwischen Gliesmarode und Fallersleben gab es nicht. Der Endpunkt der Strecke war Fallersleben BLE, ein vom Bahnhof der Staatsbahn separater Bahnhof.

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Braunschweig – Schöningen

Ehemaliger Bahnhof Evessen
Ehemaliger Bahnhof Evessen (2024)

Kein Interesse hatte die BLE an dem Gebiet südöstlich von Braunschweig, also entlang der Höhenzüge Elm und Asse. Dessen Erschließung war schon 1882 in der Ständeversammlung gefordert worden. Auch größere Kunden im Güterverkehr versprachen, eine Bahn auf diesem Gebiet lukrativ zu machen: die Saline in Schöningen, ein Kalkwerk in Hemkenrode (Stichbahn ab 1907), das Kali- und Steinsalzberg in der Asse bei Wittmar, außerdem Zuckerfabriken in Rautheim und Salzdahlum. Um diese alle zu erschließen, wurde eine Strecke geplant, die sich gabelte: die gemeinsame Trasse ging von Gliesmarode nach Hötzum (bei Sickte), wo sie sich in einen Ast nach Schöningen westlich am Elm entlang und einen anderen Ast nach Mattierzoll am westlichen Hang der Asse entlang trennte. Die Strecken wurden im Februar 1902 allgemein eröffnet, für den Güterverkehr etwas früher.

Ehemaliger Bahnhof Kneitlingen-Ampleben
Ehemaliger Bahnhof Kneitlingen-Ampleben (2024)

Betreiber der Strecke wurde die Braunschweig-Schöninger Eisenbahn (BSE), eine Aktiengesellschaft, zu deren Aktionären die Firma Lenz & Co. und das Herzogtum Braunschweig gehörten. Da Lenz & Co. schon an einer Nebenbahn zwischen Schöningen und Oschersleben (eröffnet im November 1899) und an einer Kleinbahn zwischen Mattierzoll und Heudeber (eröffnet im August 1898) beteiligt war, lag es nahe, Anschlüsse an diese Bahnen zu schaffen und auch die bestehenden Bahnhofsanlagen mitzubenutzen. Außerdem bestand in Mattierzoll Anschluss an die existierende Staatsbahn-Strecke zwischen Börßum und Oschersleben, in Gliesmarode an die Schuntertalbahn der BLE. Der Güterbahnhof hier wurde Gliesmarode Ost genannt. Die Staatsbahn-Strecke zwischen Wolfenbüttel und Jerxheim wurde dagegen ohne Verbindung überbrückt.

Ehemaliger Bahnhof Schöppenstedt-Nord
Ehemaliger Bahnhof Schöppenstedt-Nord (2024)

In den ersten Jahren wurde der Abschnitt der BLE zwischen Nordbahnhof und Gliesmarode West für den – eher unbedeutenden – Personenverkehr mitbenutzt. Beworben wurde die Bahn insbesondere für den Ausflugsverkehr in Elm und Asse. Auch in der Nähe von Braunschweig gab es Ausflugsgaststätten, die sich durch ihre Lage ausdrücklich an Bahnreisende richteten: Das noch heute existierende Café Schäfer’s Ruh (seit 1907) an den Riddagshäuser Teichen liegt direkt an der Trasse, ebenso der Waldfrieden in der (heute Hotel Aquarius) in der Buchhorst.

Als der Vertrag über die Nutzung des Nordbahnhofs nicht verlängert wurde, musste die BSE einen eigenen Personen-Bahnhof Gliesmarode Nordost einrichten, der aber äußerst ungünstig in einem Gewerbegebiet lag, in dem auch das Bahnbetriebswerk der BSE lag. Dass dies der Attraktivität des Personenverkehrs nicht zugute kam, liegt auf der Hand.

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