Wir haben gesehen, wie die Verstaatlichung der Braunschweiger Eisenbahn-Gesellschaft durch Preußen zu großer Frustration in der Braunschweiger Wirtschaft geführt hat, weil man die eigenen Interessen in den Direktionen der Preußischen Staatsbahn nicht hinreichend berücksichtigt sah. In einer Denkschrift „Die Eisenbahnverhältnisse im Herzogthum Braunschweig“ (1899) der Handelskammer ist die Misstimmung zusammengefasst:
Die Braunschweigische Bevölkerung hat heute keine Möglichkeit, ihre Wünsche und Interessen hinsichtlich des Eisenbahnverkehrs anders als auf dem Wege der Bittstellung zu vertreten. Sie ist hierbei ausschliesslich auf eine wohlwollende Aufnahme dieser Wünsche seitens der zuständigen Preussischen Eisenbahn-Direktionen angewiesen. Wenn diese versagt, und auch eine Appellation an den Preussischen Minister der öffentlichen Arbeiten ergebnislos ist, bleibt uns keine andere Möglichkeit, als die der Resignation.
Die zuletzt besprochenen Nebenbahn-Strecken der Braunschweigischen Landes-Eisenbahn sind teilweise auch darauf zurückzuführen. Wir müssen hier dennoch noch einmal auf Strecken zurückkommen, die von der Preußischen Staatsbahn gebaut wurden.
Braunschweig – Hildesheim
Hildesheim war seit jeher wichtiger Handelspartner für Braunschweig gewesen. Den Wunsch nach einer Eisenbahn-Verbindung hatte es deswegen schon lange gegeben. Von Seiten der Hannover-Altenbekener Eisenbahn (HAE) hatte es auch Interesse an dem Bau gegeben – für sie wäre es eine Fortsetzung der Strecke Löhne – Elze – Hildesheim gewesen. Dazu kam es jedoch nicht, vor allem weil die HAE Mitte der 1870er Jahre im Niedergang war. Erst im Februar 1889 war es soweit: die Preußische Staatsbahn eröffnete die Strecke Hildesheim – Groß-Gleidingen, die an ihrem Endpunkt in die Strecke zwischen Hannover und Braunschweig einmündete.
Im überregionalen Netz hatte diese Strecke eigentlich eine perfekte Lage: über Löhne an der Köln-Mindener Bahn war eine kurze Verbindung ins Ruhrgebiet und nach Köln gegeben. Dass sie an Hannover vorbeiging, gereichte ihr leider nicht zum Vorteil. Bis ins 21. Jahrhundert blieb sie eingleisig.
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Braunschweig – Gifhorn
Auch die Strecke nach Gifhorn gehörte eigentlich zu den Verbindungen, die bei der Gründung der BLE vereinbart worden waren. Tatsächlich kam die Strecke auf andere Weise zustande, und zwar als Projekt der Preußischen Staatsbahnen. Zunächst ging es um den Anschluss mehrerer Orte mit Bedarf an Güterabfertigung an die Berlin-Lehrter Eisenbahn an einem Punkt zwischen Isenbüttel und Gifhorn. In Meine (zwischen Gifhorn und Braunschweig) gab es eine Zuckerfabrik. Ihren ehemaligen Standort kann man anhand des Zuckersees und der Zuckerallee lokalisieren. Zuckerfabriken hatten für die Lage von Eisenbahnen-Trassen offenkundig einen Stellenwert: auch auf den Trassen Braunschweig – Derneburg und Braunschweig – Schöningen gibt es mehrere davon. Der Anschluss erfolgte im März 1889, Personenverkehr folgte erst im Juli 1890.
Im Fall von Triangel (nördlich von Gifhorn) war es ein Torfwerk, das einen Anschluss brauchte. Dieser erfolgte im Mai 1889. Der Personenverkehr erfolgte im November 1889. Bei der Trassierung spielte offenbar ein durchgängiger Verkehr von Meine nach Triangel keine Rolle, denn an der Station Isenbüttel wäre ein Richtungswechsel notwendig gewesen.
Der weitere Abschnitt vom Braunschweiger Hauptbahnhof aus brauchte noch weitere Jahre, so dass es ab Juli 1894 eine durchgehende Verbindung von Braunschweig nach Gifhorn gab. Hiermit gab es nun die Verbindung Braunschweigs zur Berlin-Lehrter Eisenbahn, die schon bei der Privatisierung 1870 vereinbart und konzessioniert worden war.
Danach folgte noch eine Erweiterung nach Norden bis Wieren, die im September 1900 eröffnet wurde. Die Relevanz von Wieren liegt darin, dass es hier einen Anschluss an die Strecke Stendal – Uelzen (Teil der sogenannten Amerikalinie) gab, die schon seit 1873 existierte.
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Helmstedt – Oebisfelde
Dieser Strecke wurde schon bald nach der zwischen Braunschweig und Gifhorn eröffnet, nämlich im September 1895. Hiermit wurde eine weitere Verbindung des Herzogtums Braunschweig mit der Berlin-Lehrter Bahn geschaffen. Sie führte weitgehend durch ländliches Gebiet. In Weferlingen gab es eine anzuschließende Zuckerfabrik. Ebenfalls in Weferlingen wird seit 1925 Quarzsand abgebaut. In Grasleben wurde in den 1910er Jahren ein Salz- und Kali-Bergwerk gegründet, das noch heute existiert. Der Schwerpunkt auf der Strecke lag also im Güterverkehr.
Braunschweig – Oebisfelde
Diese Verbindung war aus mehreren Gründen von Interesse: Zum einen sollte ein Anschluss an die Berlin-Lehrter Bahn in Oebisfelde stattfinden. Oebisfelde liegt so, dass eine Fahrt von Braunschweig aus nach Berlin wesentlich verkürzt wurde. Zum anderen bindet die Strecke aber auch einige kleinere Orte im Nordosten des Herzogtums ins Eisenbahnnetz ein.
Die Strecke zweigt in Schandelah von der bereits existierenden Hauptstrecke nach Helmstedt ab. Allerdings ist der Teil zwischen Schandelah und Oebisfelde lediglich als Nebenbahn gebaut worden. Im Oktober 1902 wurde sie eröffnet.
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Braunschweig – Celle
Wenn man bedenkt, dass Celle schon in den allerersten Vorschlägen für Bahnverbindungen von Braunschweig aus vorkam, mag es überraschen, dass es bis ins 20. Jahrhundert dauerte, bis eine direkte Verbindung zustande kam. Das liegt allerdings daran, dass in den 1820er und 1830er Jahren Celle immer nur als Zwischenstation für die Verbindung mit den Seehäfen gedacht war, die für ein gemeinsames Vorgehen von Hannover und Braunschweig den Vorteil hatte, zu beiden Parteien etwa den gleichen Abstand zu haben. Die Verbindung nach Hamburg war in den 1840er Jahren mit der Kreuzbahn und ihrer Verlängerung nach Norden hergestellt. Sowohl Hannover als auch Braunschweig hatten in der Zwischenzeit damit gelebt, dass der Weg nach Norden über Lehrte führte (Hannover sollte erst 1938 eine direkte Verbindung nach Celle bekommen).
Nun wurde also nach mehrjährigen Verhandlungen 1912 der Bau einer direkten Verbindung zwischen Braunschweig und Celle sowie gleichzeitig – von Plockhorst abzweigend – einer von Peine nach Celle beschlossen. Der Bau verzögerte sich aufgrund des Ersten Weltkriegs. Die Eröffnung erfolgte in Abschnitten: im September 1920 von Celle bis Uetze, im Mai 1921 weiter nach Plockhorst und schließlich im März 1923 weiter bis Braunschweig. Gebaut werden musste nur bis Gliesmarode, denn das letzte Stück bis zum (damaligen) Hauptbahnhof war durch die Strecke nach Gifhorn schon vorhanden. Inzwischen war die Preußische Staatseisenbahn in der Deutschen Reichsbahn aufgegangen.
Der Verlauf der Trasse ist auf den ersten Blick ungewöhnlich, der Weg zwischen Wendeburg und dem alten Hauptbahnhof von Braunschweig wäre westlich der Stadt wesentlich kürzer gewesen. Motivation dafür war von Braunschweiger Seite, dass man schon einen Durchgangsbahnhof im Südosten der Stadt im Blick hatte, der eine durchgängige Verbindung – ohne Notwendigkeit einer Richtungsänderung – weiter in den Süden des Herzogtums erlaubt hätte. Da dieser Durchgangsbahnhof erst 1960 wirklich eröffnet wurde, also gar nicht lange vor Beendigung des Personenverkehrs auf dieser Strecke, ist es nie dazu gekommen.
Die Strecke verläuft im Vergleich mit den Nebenstrecken der BLE kurvenarm, die Bahnhofsgebäude sind relativ groß, wie es für eine Nebenstrecke unüblich ist. Inmitten des Streckenverlaufs liegt Plockhorst, wo die Berlin-Lehrter Eisenbahn gekreuzt wird. Um eine Beeinträchtigung des West-Ost-Verkehrs zu vermeiden, führte man die neue Strecke mittels einer Brücke über die bestehende und baute einen sogenannten Turmbahnhof, bei dem die Bahnsteige der verschiedenen Strecken auf unterschiedlichen Ebenen liegen. Eine Umstiegsmöglichkeit am Rande eines Dorfs mit ein paar hundert Einwohnern!
Die Strecke kann als die letzte neu errichtete Bahnstrecke im Braunschweiger Land gelten. Danach gab es lediglich noch Neutrassierungen – darunter sehr tiefgreifende – aber keine wirklichen Neubauten. Damit markiert sie – wie andernorten in Deutschland – den Höhepunkt des Eisenbahnwesens zwischen den beiden Weltkriegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird es weitgehend um Streckenstillegungen gehen.