Die Neustadt ist ein bisschen der Underdog unter den Quartieren der Innenstadt. Zu einer Traditionsinsel hat es das Viertel nicht gebracht, da einfach zu viel durch den Krieg zerstört wurde. Die Umgebung der Andreaskirche, die das Zentrum bildet, bestand weitgehend aus Fachwerkgebäuden, die wenig Chancen hatten, einen Feuersturm zu überstehen. Auch ist der Wollmarkt, der Platz vor der Andreaskirche durch eine mehrspurige Straße vom Zentrum isoliert.
Für mich ist es dennoch ein anziehender Ort, wobei ich vielleicht etwas befangen bin, weil ich 15 Jahre lang in einer Wohnung gelebt habe mit direktem Blick auf das Westwerk der abends angestrahlten Kirche mit seinem schönen Maßwerk.
Die Kirche war mal eines der Wahrzeichen der Stadt – vor allem wegen ihrer Höhe, die alle anderen Kirchen der Stadt übertrifft, aber auch wegen der angrenzenden Straßen voller Fachwerkhäuser. Noch in den 1930er Jahren wurden die Häuser saniert und die Hinterhöfe freigeräumt, um die Lebensqualität zu erhöhen. So sah die Weberstraße um die Jahrhundertwende aus [1] im Vergleich zu heute.
Der Südturm ist seit Sommer 2000 bis zur Turmstube in 72 m Höhe begehbar – einen höheren Aussichtspunkt findet man nicht in der Stadt. Allerdings muss man den über 389 Stufen auch erst einmal erklimmen.

Aus der Nähe sieht man die Wasserspeier sowohl an der Kirchenhalle als auch an den Türmen.

Wenn man sich die Höhe der Türme bewusst gemacht hat und dann den Innenraum der Kirche betritt, erscheint er einem geradezu gedrungen. Verglichen mit dem Dom oder der Martinikirche wirkt die Ausstattung karg: sehr viel wurde bei einem Bombenangriff 1944 zerstört. Von außen sieht man das dem Gebäude kaum an, dessen Wiederaufbau Jahrzehnte gedauert hat.

Ein Überrest der Kanzel von 1610 ist die farbige Figur des Heiligen Andreas. Dagegen ist die Kreuzigungsszene ein Werk von 1980 von Jürgen Weber, der mehrere Skulpturen in Braunschweig geschaffen hat, darunter den Ringerbrunnen.
Gleich neben der Andreaskirche steht die Liberei, das einzige mittelalterliche Backsteingebäude der Stadt (1412-22). Wie der Name schon sagt, wurde das Gebäude als Bibliothek errichtet – den Anfangsbestand bildete die Sammlung des damaligen Pfarrers, der das Projekt initiiert hatte (man beachte, dass wir hier natürlich über die Zeit vor dem Buchdruck reden). Als Steinbau hat die Liberei den Krieg – verglichen mit den umstehenden Fachwerkgebäuden – so gut überstanden, dass sie bis 1964 wiederaufgebaut und 1985 auch im Inneren wieder nutzbar gemacht wurde.

Etwas länger musste die Alte Waage warten, nämlich bis 1994. Sie war so zerstört, dass die Trümmer nach dem Krieg komplett abgeräumt worden waren. Der Wiederaufbau erfolgte also aus dem Nichts, an der Fassade zwar detailgetreu, aber im Inneren der neuen Nutzung gemäß: hier sind jetzt Verwaltung und Unterrichtsräume der VHS untergebracht.

Ich persönlich kann die Motivation für den Wiederaufbau verstehen, finde aber auch, dass sich der Bau inmitten von Zweckbauten der im ganzen Viertel vorherrschenden 0815-Bauten der 50er Jahre doch wie ein Fremdkörper anfühlt, zumal ihm die Patina von überkommenen Fachwerkgebäuden fehlt.
Durch die Opfertwete kommen wir vom Kirchhof der Andreaskirche zur Reichsstraße – dieser Durchgang wurde erst nach den Kriegszerstörungen geschaffen. Hier finden wir wie schon in der Altstadt ein Beispiel für Recycling von Portalen. Dieses hier stammt aus dem Jahr 1619 und wurde von einem ebenfalls zerstörten Haus in der Wilhelmstraße 95 übernommen.

Ein paar Meter weiter steht das Achtermannsche Haus, das 1630 vollendet wurde und eins der eindrucksvollsten Portale hat. Ein Teil, etwa das zweite Geschoss, war ursprünglich aus Fachwerk gebaut. Nach dem Krieg wurde dieser Fachwerkteil, der natürlich den Krieg nicht überstand, in Stein ergänzt. In diesem Haus ist mehrmals das Briefwahlbüro eingerichtet gewesen.

Auch zur Neustadt gehört die Kemenate Hagenbrücke. Kemenate allgemein bezeichnet aus Stein gemauerte mittelalterliche Wohnhäuser, die typischerweise hinter dem eigentlichen Fachwerk-Wohnhaus standen und beheizbar waren. Wegen der höheren Kosten war dies im Mittelalter ein im Vergleich zum Fachwerk wenig verbreiteter Typus. Die meisten finden sich in der Altstadt, mit der Jakobskemenate als bekanntestem Vertreter, weil sie von der Prüsse-Stiftung für Ausstellungen genutzt wird. So wie die Jakobskemenate durch das Hinzufügen eines modernen Gebäudeteils ergänzt wurde, ist auch die Kemenate Hagenbrücke…

…durch die Kombination mit einem modernen Gebäudeteil zu einem praktikablen Ausstellungsort und gleichzeitig zu einem für sich interessanten Architekturexperiment geworden.

Unweit hiervon auf der anderen Seite der Langen Straße befindet sich das Neustadtrathaus. Im Mittelalter war die Neustadt ein Weichbild, also ein Stadtteil mit einem eigenen Rat, der hier tagte. Dafür hat es freilich eine erstaunliche Randlage zu Hagen und Sack hin. Nachdem die Weichbildräte nach der Eroberung der Stadt durch die welfischen Herzöge 1671 aufgehoben wurden, wurde das Neustadtrathaus als das Rathaus der Stadt genutzt (wobei der Rat nicht mehr das Machtzentrum von vorher war).
Die ursprüngliche Gestalt des Gebäudes lässt sich jetzt natürlich nicht mehr erahnen – im 15. Jahrhundert muss es mit einem gotischen Laubengang eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Altstadtrathaus gehabt haben. Die heutige frühklassizistische Gestalt hat es 1773 und 1785 bekommen, wobei Kriegszerstörungen erst 1974 nach Verkauf an privat behoben wurden. Heute findet man hier Gastronomie und Fitnessstudio, weswegen selbst geborene Braunschweiger teilweise gar nicht wissen, dass dies mal ein Rathaus war.

Geschichte
Die Andreaskirche war jahrhundertelang ein Wahrzeichen der Stadt, das erst Stiche, dann Ansichtskarten geprägt hat, was auch mit der schieren Höhe zu tun hat. Eigentlich sollte sie sogar noch eindrucksvoller aussehen, wie auf einem Gemälde von Johann Jakob Müller von Ende des 17. Jahrhunderts zu sehen [2].

Von wann der dem Gemälde zugrundeliegende Plan stammt, ist nicht klar – wie bei vielen mittelalterlichen Kirchen hat sich die Gestalt über lange Zeit entwickelt. So muss die ursprüngliche Kirche wohl mit der Anlage der Neustadt im 12. Jahrhundert entstanden sein. Der Westbau wurde zwischen 1250 und 1450 bis zum Glockengeschoss errichtet.
Die Vollendung der Türme wurde 1518 in die Hände von Barward Tafelmaker gelegt, der darüber später berichtet:
Wir bauten 14 Jahr, uns uns ward genug dazu gegeben. Auch waren wir der Meinung, weil die Leute so willig dazu hergaben, daß wir den andern Thurm gleichfalls zu bauen anfangen wollten, und hatten bereits einen neuen Steinbruch auf dem Elme abräumen lassen, und begannen zu brechen. Da fing Dr. M. Luther zu schreiben an, daß die guten Wercke nicht verdienstlich, sondern sündlich wären. Nun wollte Keiner mehr dazu geben, wir mußten den Bau stehen lassen, und unsre Herren setzten andere Leute bei der Kirche an.
Es wurde also nur der Südturm vollendet. Zum Abschluss des Südturms wurde ein 52 m hoher mit Kupfer gedeckten Spitzhelm aufgesetzt, der mit hellgrüner Farbe angestrichen wurde. So kam der Turm 1544 auf eine stolze Höhe von 122 m, eine ähnliche Höhe wie die des Stephansdoms in Wien oder des Straßburger Münsters. Gerade in der auf- und untergehenden Sonne muss der Turmhelm einen prachtvollen Anblick geboten haben. Herzog Heinrich der Jüngere, der mit der Stadt im Krieg stand, bezeichnete die Spitze als „grünes Feuer“. Der Legende nach muss der Bau eine Provokation gewesen sein, da das Holz für den Bau aus seinen Forsten genommen worden war. Bei der Belagerung der Stadt 1550 soll er sogar eine Belohnung ausgesetzt haben für den Schützen, der die Spitze herunterschießen würde. Geschehen ist das allerdings nicht.
Zur Katastrophe kam es ironischerweise im folgenden Jahr, und zwar ganz ohne äußeres Zutun. Durch einen Sturm wurde die Spitze heruntergeweht. Schon nach einem Zeitraum von 8 Jahren wurde sie durch eine neue ersetzt, die aber 14 m niedriger war. Aber auch dieser Turm sollte nicht für die Ewigkeit sein. 1680 wurde er durch einen Blitzschlag beschädigt. Diesmal dauerte der Wiederaufbau länger. Wir sind inzwischen im Jahr 1740, woraus sich die jetzige barocke Haube erklärt.
Wie alle anderen Braunschweiger Kirchen wurde auch St. Andreas im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt. Viel über die Haltung beim Wiederaufbau sagt kann man daran sehen, in welcher Form die Kirche instandgesetzt wurde: man folgte keinem Idealbild, wie es das einige Jahrhunderte alte Bild hätte nahelegen können. Stattdessen haben wir immer noch zwei verschieden hohe Türme, von denen der südliche einen Turmhelm trägt, wie er 1740 gebaut wurde. Offenbar wollte man zu dem Zustand zurück, an den man sich beim Aufwachsen in Braunschweig gewöhnt hatte.
Karte
Weiter geht’s
Bildquellen
- [1] Braunschweig. Weberstraße mit Andreaskirche
Gemeinfrei - [2] Die Türme von Sankt Andreas zu Braunschweig
Peter Albrecht und Henning Steinführer (Hg.)
Bild: Gemeinfrei - [Karte] OpenStreetMap
OpenStreetMap-Mitwirkende
Open Data Commons Open Database License